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Bindungsorientierte Einschlafbegleitung

Hintergrundwissen

Bindungsorientierte Einschlafbegleitung

Ein wissenschaftlich fundierter Fachartikel für pädagogische und psychologische Fachkräfte

1. Einleitung


Einschlafen ist ein hochsensibler Moment im kindlichen Alltag, der weit mehr ist als nur der Übergang vom Wachen zum Schlafen. Für Kinder bedeutet Einschlafen auch Loslassen, sich Alleinlassen, Kontrollverlust und Trennung von den Bezugspersonen. Die bindungstheoretische Einschlafbegleitung setzt hier an: Sie betrachtet Schlaf als Beziehungsgeschehen und betont die Bedeutung sicherer Bindung für eine gesunde Schlafentwicklung. Ziel dieses Artikels ist es, die theoretischen Grundlagen, die neurobiologischen Prozesse und die praktischen Implikationen für Fachkräfte differenziert darzustellen.

2. Theoretische Grundlagen: Bindung, Sicherheit und Schlaf


Die Bindungstheorie nach John Bowlby (1969) postuliert, dass Kinder in der Interaktion mit ihren primären Bezugspersonen ein inneres Arbeitsmodell entwickeln, das Erwartungen an das Verhalten anderer sowie an die eigene Regulationsfähigkeit prägt. Mary Ainsworth (1978) konkretisierte diese Theorie empirisch durch die „Fremde-Situations-Testung“ und unterschied verschiedene Bindungsmuster (sicher, unsicher-vermeidend, unsicher-ambivalent, desorganisiert).

Für die Schlafentwicklung sind insbesondere zwei Aspekte zentral:

  1. Die Fähigkeit zur Selbstregulation, die nur aus einer stabilen Co-Regulation mit feinfühlig reagierenden Bezugspersonen entstehen kann.

  2. Die emotionale Sicherheit, die notwendig ist, um den Trennungsprozess des Einschlafens überhaupt zuzulassen.

3. Neurobiologie des kindlichen Schlafs


Schlaf ist neurobiologisch eng mit Stressverarbeitung und Emotionsregulation verknüpft. Das kindliche Nervensystem befindet sich in den ersten Lebensjahren in einer Phase erhöhter Plastizität und Sensitivität.

Insbesondere das limbische System (Amygdala, Hippocampus) sowie die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse) spielen beim Schlaf eine entscheidende Rolle. Studien zeigen, dass das alleinige Schreienlassen von Kindern, wie es in Schlaftrainings vorkommt, zu einem Anstieg von Cortisol führt, was langfristig stressbedingte Dysregulationen zur Folge haben kann (Gunnar et al., 2009).

Ein sicher gebundenes Kind hingegen zeigt niedrigere Cortisolwerte in neuen oder belastenden Situationen und kann – neurobiologisch gesprochen – besser zwischen „Gefahr“ und „Trennung ohne Gefahr“ differenzieren (Schore, 2003).

4. Bindungstheoretisch fundierte Einschlafbegleitung in der Praxis


Im Gegensatz zu behavioristisch geprägten Methoden (z. B. kontrolliertes Schreien, Ferber-Methode) basiert die bindungsorientierte Einschlafbegleitung auf folgenden Prinzipien:

  • Responsivität statt Konditionierung: Signale des Kindes (Weinen, Unruhe, Rufen) werden als Ausdruck von Bedürfnissen verstanden, nicht als Manipulation.

  • Körperliche und emotionale Nähe: Einschlafbegleitung durch Halten, Tragen, Berühren, Präsenz im Raum.

  • Kontinuität und Rituale: Wiederholbare, liebevolle Abendrituale geben Orientierung und Sicherheit.

  • Schrittweise Autonomisierung: Das Ziel ist nicht, dass das Kind „funktioniert“, sondern dass es in seinem eigenen Tempo lernt, sich sicher zu regulieren.

BUCHTIPP

Wer sich ernsthaft mit Bindungsforschung beschäftigt, wird an diesem Buch in Zukunft nicht vorbeikommen.

Klaus E. Grossmann, Karin Grossmann (Hrsg.)

Februar 2015
Bindungstheorie Bowlby

5. Altersdifferenzierte Begleitung

  • 0–18 Monate: Einschlafen meist in direktem Kontakt (Stillen, Tragen), hohe Nähebedürfnisse.

  • 18–36 Monate: Trennungserfahrungen intensiver, Rituale besonders wichtig (Lieder, Geschichten, Übergangsobjekte).

  • 3–6 Jahre: Fantasie und Angst nehmen zu, Einschlafbegleitung kann imaginativ (Traumreisen, Schutzgeschichten) gestaltet werden.

6. Risiken von Schlaftrainings

  • Erlernte Hilflosigkeit

  • Vermindertes Urvertrauen

  • Internalisiertes Stressmuster

  • Störung der Bindungsentwicklung

Wie Van der Kolk (2014) betont, speichert der Körper frühe Stress- und Trennungserfahrungen tief im impliziten Gedächtnis ab – mit Auswirkungen auf Selbstbild, Beziehungsfähigkeit und psychische Gesundheit.

7. Bedeutung für die Fachpraxis


Pädagogische und psychologische Fachkräfte können Eltern unterstützen, indem sie

  • Informationen zur Bindung und Schlafentwicklung bereitstellen,

  • elterliche Selbstwirksamkeit stärken,

  • konkrete Rituale und Einschlafhilfen vorschlagen,

  • den gesellschaftlichen Druck auf „funktionierende Kinder“ kritisch reflektieren,

  • eine liebevolle Grundhaltung gegenüber kindlichen Nöten vermitteln.

8. Fazit


Bindungstheoretisch fundierte Einschlafbegleitung ist keine „sanfte Alternative“, sondern ein neurobiologisch begründeter, entwicklungspsychologisch sinnvoller und beziehungsstärkender Weg. Sie fördert nicht nur das Schlafverhalten, sondern auch die seelische Gesundheit und Resilienz von Kindern – langfristig und tiefgreifend.

9. Quellen

  • Bowlby, J. (1969). Attachment and Loss.

  • Ainsworth, M. (1978). Patterns of Attachment.

  • Brisch, K. H. (2011). SAFE – Sichere Ausbildung für Eltern.

  • Schore, A. N. (2003). Affect Dysregulation and Disorders of the Self.

  • Van der Kolk, B. (2014). The Body Keeps the Score.

  • Gunnar, M. R. et al. (2009). Stress Responses and Cortisol in Infants.

  • Perry, B. & Szalavitz, M. (2021). What Happened to You?

  • Siegel, D. & Bryson, T. (2012). The Whole-Brain Child.

📚 Buchempfehlung nochmal als Reminder:
„Trennungsangst bei Kindern: Psychologischer Ratgeber für Eltern“ von  Valeria Saenz  (2025)

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